Buchvorstellung: „Wie wird weniger genug? - Suffizienz als Strategie für eine nachhaltige Stadtentwicklung“

Ein Bericht von Louisa Osburg (BEI)

Wie weniger genug werden kann, war eine der zentralen Fragen in einem 3-jährigen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Europa-Universität Flensburg und der Stadt Flensburg unter dem Titel "Entwicklungschancen und Hemmnisse suffizienzorientierter Stadtentwicklung". Zentrale Ergebnisse wurden nun aufgearbeitet und veröffentlicht. Gemeinsam mit Jonas Lage, einem der Ko-Autoren, warf das Bündnis Eine Welt am 29.04. einen Blick in die Publikation und ging mit Moderatorin Teresa Inclán sowie rund 50 Gästen im anschließenden Gespräch der Frage nach, wie ein gutes Leben für alle Stadtbewohner*innen gestaltet werden kann, so wie es das globale Nachhaltigkeitsziel Nr. 11 fordert.

In welcher Stadt wollen wir leben? Wie kann suffiziente Stadtplanung aussehen? Welche Hürden und Erfolge kann sie mit sich bringen? Anhand von Beispielen gab uns Jonas Lage (Ko-Autor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norbert Elias Center for Transformation Research and Design an der Europa-Universität Flensburg) einen vielseitigen Einblick in die Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeiten und Entwicklungswege solcher Entwürfe.

Die Stadt in Höhe des Gesichtsfeldes in den Blick zu nehmen, ist ausschlaggebend für ein gemeinwohlorientiertes Stadtmodell, das den Menschen in den Fokus nimmt. Lebendig, sicher, nachhaltig und gesund sollte die Stadt sein. Doch was ist nicht zukunftsfähig? Warum sollte weniger genug werden?

Wenn wir über nachhaltige Stadtentwicklung sprechen, sollten wir uns zum einen Gedanken über eine lebenswerte bzw. wünschenswerte Stadt machen und zum anderen schauen, wie mit Ressourcen umgegangen werden kann. In der Auseinandersetzung mit dem Thema treten drei Begriffe in Erscheinung: Die Konsistenz, die Effizienz und die Suffizienz. Während Konsistenz und Effizienz die Prozessprodukte optimieren, stellt sich Suffizienz die Fragen „Was ist zu viel? Was brauchen wir und was nicht? Wo wird nachhaltiges Leben erschwert?“. Sie ist keine technische Strategie und setzt auf Verhaltensänderung. In der wachstumsorientierten Gesellschaft entwickelt sich zwar ein Bewusstsein für nachhaltige Produktionen (z.B. E-Autos, E-Bikes, erneuerbare Energien u.ä.) bzw. erschaffen wir das, was wir schon haben, sozusagen noch einmal aus einem grünen Blickwinkel heraus. Dadurch wird die Stadt jedoch nicht weniger massiv in ihrer Dichte. Ausschlaggebend sind hier nicht nur technische Lösungen, sondern im speziellen bewusste Reduzierungen. Doch steigen beispielsweise Siedlungs-und Verkehrsflächen stetig weiter an. Es herrscht eine enorme Flächenkonkurrenz.

Suffizienzpolitik könnte ressourcenarmes Leben einfacher machen. Wichtig hierfür ist zugleich eine gute Wohnstruktur im Sinne der bezahlbaren und wohnlichen Perspektive. Der Grundriss ist hier entscheidend. Der Mensch passt sich dem Gerüst der Stadt an. Stellt man sich die Frage, warum das Fahrrad in Kopenhagen eine zentrale Rolle einnimmt, so scheint der ökonomische Grund plausibel. Doch liegt die eigentliche Ursache in der Struktur der Stadt, in der sich das Fahrradfahren als nützlicher erweist. Durch eine Veränderung in der Stadtplanung können sich also auch Verhaltensweisen ändern und beispielsweise positiv auf die Umwelt auswirken.

Zu Beginn einer solchen Veränderung stellen sich meist Gewohnheit und Verlustangst als Hürden in den Weg. Ein Beispiel dafür, dass man diese Hürden jedoch überwinden und sogar in eine unerwartete Begeisterung umwandeln kann, bot die Stadt Siegen: Trotz anfänglicher Kritik wurde im Jahr 2009 der Schritt von einer autogerechten zu einer menschengerechten Stadt beschlossen und in die Tat umgesetzt. Aus ca. 200 Parkplätzen schaffte die Stadt am Fluss Sieg einen, schließlich allseits wertgeschätzten, urbanen Begegnungsort. Neben einer zweispurigen Straße entstanden eine gute Fahrradstruktur und ein Fußgängerweg mit Blick auf den naturbelassenen Fluss. Zuvor bemühte sich die Stadt, mithilfe von Infoständen, Veranstaltungen für Schulklassen sowie Baustellenführungen (angeleitet von dem Baumeister oder Oberbürgermeister) um ein großes Maß an Transparenz. In Tübingen fing man an, Grundstücke nicht mehr nach dem höchsten Angebot, sondern nach einem Festpreis zu vergeben und sich in der Entscheidung auf den Grad der Gemeinwohlorientierung sowie die damit verbundene Nützlichkeit zu beziehen. Statt immer wieder neue Gewerbegebiete zu gründen, können alte nachgedichtet werden, indem z.B. Parkplätze reduziert und im Austausch mit dem Unternehmen Jobtickets für Mitarbeiter*innen eingeführt werden.

Die genannten Maßnahmen sind keine Zauberwerke, (teilweise) schnell umzusetzen und längst bekannt, aber dennoch selten. Grund hierfür ist der Kontrast zum Fortschrittsdenken der Gesellschaft, die gerne wachstumsorientiert handelt. Da Suffizienzpolitik die Umwandlung in eine lebenswerte und zukunftsfähige Stadt ermöglicht, sollte sie jedoch mehr Beachtung finden. Durch die Orientierung am Gemeinwohl, die Umverteilung von Zugang zum Stadtraum und die Deprivilegierung von nicht-nachhaltigen Praktiken wird aus privatem Luxus öffentlicher Wohlstand. Strategien zur Umsetzung von Suffizienzmaßnahmen sind zunächst die bewusste Idee des Städtischen und das aktive Selbstverständnis der Stadtverwaltung. Die Umsetzung erfordert einen langen Atem mit konsequenter Zielverfolgung und langfristigem Durchhaltevermögen. Natürlich spielt auch die Verfügbarkeit zentraler Ressourcen, wie z.B. Boden, Geld, Personal, eine wichtige Rolle. Eine gemeinsame Gestaltung von Politik und Verwaltung ist unabdingbar, ebenso wie die regionale Zusammenarbeit, Bürgerbeteiligung sowie allgemein eine regelmäßige, partizipative und transparente Kommunikation. Statt eventuelles Scheitern als etwas Negatives wahrzunehmen und Konflikten auszuweichen, sollte man den Prozess als fehlerfreundlich und lehrreich betrachten. Um in der nachhaltigen Stadtentwicklung Qualitätsstandards zu sichern, können Förderprogramme als Instrumente viel bewegen. Grundsatzbeschlüsse können die Planung auf kommunaler Ebene in adäquate Bahnen lenken. Eine wichtige Grundvoraussetzung für eine gelungene Stadtentwicklung ist insbesondere die bewusste Verinnerlichung der Ideen. Wenn diese vom Entscheidungsträger nicht gelebt werden, gelingt auch die Umsetzung nicht richtig.

Suffizienz als Ansatz einer nachhaltigen Stadtentwicklung steht vor vielen Hürden, kann jedoch, wie uns der Austausch zeigte, ihren Ankerpunkt finden und in Zusammenarbeit mit anderen Strategien sowie im gesellschaftlichen Zusammenschluss viel erreichen. Sie stellt eine Strategie zur Erreichung von Zielen dar und kann sich dementsprechend auch profitabel auf die Agenda 2030 bzw. die Umsetzung ihrer globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) auswirken. Doch wie viel Suffizienz steckt in den SDGs? Die Agenda 2030 und ihr 17 Ziele sind nach wie vor von der Prämisse des „nachhaltigen Wachstums“ geprägt und in ihrer Ausgestaltung eher technikorientiert. Es finden sich Schnittstellen zum Ansatz der Suffizienz, diese sollten allerdings für eine erfolgreiche Zielerreichung bis 2030 deutlich stärker fokussiert werden.

Wir danken unserem Referenten und Ko-Autor Jonas Lage für seinen wertvollen Input sowie allen Teilnehmenden für ihr Interesse an der Veranstaltung und den interessanten Austausch.

Veranstalter:
Bündnis Eine Welt Schleswig-Holstein e.V. (BEI)

Die Veranstaltung war Teil des SDG-Jahresthemenprogrammes „Die Sustainable Development Goals (SDG) in Schleswig-Holstein – Nachhaltigkeit auf dem Prüfstand“ des Bündnis Eine Welt Schleswig-Holstein e.V. (BEI) und wird gefördert durch Engagement Global mit finanzieller Unterstützung des BMZ, BINGO! Die Umweltlotterie sowie den Kirchlichen Entwicklungsdienst der Nordkirche (KED).

 

 

Das Buch zum Downloaden (uneingeschränkter Zugang): https://www.oekom.de/buch/wie-wirdweniger-genug-9783962382766

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